Ein NS-Täter begegnet seinen Opfern – Joseph Goebbels besucht vor 80 Jahren das Kriegsgefangenenlager Zeithain
13.09.21
Zwei Monate nach Beginn des Überfalls auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 lud das Reichsministerium für Propaganda und Volksaufklärung per Schnellbrief zur Besichtigung eines „Lagers kriegsgefangener Bolschewisten“ ein.
Die Besichtigung war für die Zeit von 12.00 bis 14.30 Uhr zusammen mit Joseph Goebbels geplant, danach stand ein gemeinsames Mittagessen auf dem Programm. „Es wird gebeten, sich mit festem Schuhzeug und Regenschutz zu versehen.“ ( Bundesarchiv, NS 18/271).
Seit Wochen wurde die deutsche Bevölkerung, aber auch die Funktionsträger in Regierung, Partei, und Massenorganisationen mit den Zerrbildern der Propaganda über die Soldatinnen und Soldaten der Roten Armee in den Wochenschauen sowie Printmedien konfrontiert. Der Besuch des „Russenlagers“ Zeithain am 26. August 1941 hatte den „[…] Zweck […], den Konferenzteilnehmern und Vertretern des Gaues Berlin einmal die in den Wochenschauen gezeigten Untermenschen in Natur vorzuführen […]“ (Bundesarchiv, NS 18/271).
Im Kriegstagebuch des 986. Landesschützenbataillons, das für die Bewachung des Kriegsgefangenenlagers Zeithain, dem Stalag 304 (IV H) eingesetzt war, findet sich die Notiz: „Früh schön, mittags heftige Niederschläge. Dr. Goebbels besucht mit einer Propaganda-Abteilung von 90 Mann das Kriegsgefangenenlager. Von Stalag ergeht keine Einladung an das Bataillon.“ (Nachlass Otto K.)
Während die Offiziere des Bataillons sich pikiert darüber zeigten, nicht eingeladen worden zu sein, an dem Rundgang mit dem Minister über das Lagergelände teilzunehmen beschrieb Joseph Goebbels den Besuch und das Elend der sowjetischen Kriegsgefangenen folgendermaßen: „Wir stapfen ein paar Stunden durch dieses Lager, im strömenden Regen, [...] Die Bolschewisten müssen zum Teil auf der nackten Erde schlafen. [...] Sie haben zum Teil kein Dach über dem Kopf; [...] Kurz und gut, das Bild ist alles andere als erfreulich.“ (Die Tagebücher des Joseph Goebbels, Teil II, Hrsg. Elke Fröhlich, München u.a. 1996, S. 315)
Während des Rundgangs sprach Goebbels mittels eines übersetzenden Wehrmachtsoffiziers mit einigen Gefangenen. Diese Gespräche fanden unter freiem Himmel oder in halb fertiggestellten Steinbaracken, sogenannten Russenbaracken, statt. Joseph Goebbels kam dabei seinen Opfern so nah, wie sonst kein anderes hochrangiges Mitglied aus Hitlers unmittelbarem Umfeld. Er stand seinen Opfern von Angesicht zu Angesicht gegenüber, und diese Begegnungen wurden in Ausschnitten durch ein Filmteam der Deutschen Wochenschau ohne Ton festgehalten. Für kein anderes Mitglied aus dem inneren Führungszirkel des NS-Regimes ist eine vergleichbar intensive Begegnung filmisch dokumentiert worden.
„Ich unterhalte mich mit ihnen […] [Sie]…sind […] nicht so stumpf und vertiert, wie man das aus den Aufnahmen in der Wochenschau annehmen musste. [...] Man kann bei der Besichtigung eines solchen Gefangenenlagers schon sehr merkwürdige Ansichten über die Menschenwürde im Kriege bekommen.““ (Die Tagebücher des Joseph Goebbels, S. 315) Der Inhalt der Gespräche wird in den Tagebuchaufzeichnungen und dem erwähnten Besuchsbericht teilweise wiedergegeben. Letzerer stellte zusammenfassend fest, dass „[d]ie Fahrt […] nicht das gewünschte Ergebnis [brachte], als die Gefangenen […] ein durchaus menschliches Aussehen hatten.“ (Bundesarchiv, NS 18/271)
Die Filmaufnahmen wurden laut Auskunft des Bundesfilmarchivs niemals in einer UFA-Wochenschau gezeigt. In der Gedenkstätte Ehrenhain Zeithain werden sie seit 2013 vertont mit Auszügen aus den Tagebuchaufzeichnungen und dem Besuchsbericht sowie ergänzt durch historische Fotos und Kommentare in der Dauerausstellung gezeigt.