Rückblick auf die Buchvorstellung „Ein Ort für ,Menschen mit neuem Bewusstsein‘“ im Lern- und Gedenkort Kaßberg-Gefängnis Chemnitz
26.09.25

Einen Blick auf die andere Seite – nicht auf die Betroffenen, sondern auf Bediensteten- und Verantwortungsperspektiven der SED-Diktatur – bot am 25. September 2025 eine gemeinsame Veranstaltung der Stiftung Sächsische Gedenkstätten (StSG) und des Lern- und Gedenkorts Kaßberg-Gefängnis in Chemnitz. Der Historiker und Geschichtslehrer Dr. Heiko Neumann stellte seine Studie „Ein Ort für ,Menschen mit neuem Bewusstsein‘ – Lebenswelten hauptamtlicher Mitarbeiter der Bezirksverwaltung Dresden des MfS 1950 bis 1989“ vor und kam anschließend mit Sven Riesel, stellvertretender Geschäftsführer der Stiftung Sächsische Gedenkstätten ins Gespräch. Dr. Ellen Thümmler von der Volkshochschule Chemnitz moderierte den Abend.
Wie sahen sie aus – Prägungen, Ideologie und Legitimationsmuster der Hauptamtlichen? Was bestimmte Dienstalltag, Familienleben, Wohnen und Freizeit? Heiko Neumann zeichnet in seiner knapp 600-seitigen Arbeit ein dichtes Panorama der Dresdner Bezirksverwaltung des MfS und ihrer am Ende über 3.500 Beschäftigten. Orientiert an den Ebenen Struktur, Raum und Mensch verknüpft er Organisationsgeschichte mit Alltags- und Mentalitätsgeschichte und macht dabei zahlreiche bislang wenig bekannte Quellen und Bildzeugnisse zugänglich.
Schlaglichtartig beleuchtete der Autor zentrale Ergebnisse: die bauliche Verdichtung des MfS-Komplexes im Dresdner Villenviertel an der Bautzner Straße; Erwartungen an Personal und Karriere sowie die fortschreitende „Entgrenzung“ von Arbeits- und Privatleben. Das Ministerium regelte Verhaltensnormen bis ins Intimleben hinein, sanktionierte etwa Alkoholmissbrauch oder diskutierte Affären im Kollektiv; im Gegenzug standen Privilegien wie überdurchschnittliche Bezahlung, verkürzte PKW-Bestellzeiten oder Urlaubsplätze.
Ein weiterer Fokus lag auf Biografien aus der Leitungsebene, die exemplarisch Funktionslogiken sichtbar machen – etwa der Weg von Horst Böhm, der aus Karl-Marx-Stadt (heute Chemnitz) kommend 1981 die Bezirksverwaltung Dresden übernahm und sie „bis durch den Untergang 1989/90“ führte.
Im gemeinsamen Gespräch ging es um die Bedeutung der Bediensteten- und Verantwortungsperspektive für Gedenkstättenarbeit und politische Bildung. Ausgangspunkt seien, so Neumann, immer wieder Fragen von Besucherinnen und Besuchern nach den Akteuren und den Gebäuden gewesen. Sven Riesel betonte, dass es hier – anders als häufig in der Schriftenreihe der StSG – nicht um ehrendes Erinnern, sondern um Verständnis der Funktionsweise der Diktatur gehe: Die Staatssicherheit, eng verzahnt mit den anderen sogenannten bewaffneten Organen, war als „Schild und Schwert der Partei“ darauf ausgerichtet, die Macht der SED mit allen verfügbaren Mitteln zu sichern und aus politischen Gründen missliebige Menschen zu verfolgen. Es sei wichtig, Strukturen, Handlungsspielräume und Selbstbilder der Bediensteten- bzw. Täterseite zu analysieren, um Mechanismen von Repression, Loyalität und gesellschaftlicher Durchdringung in der DDR zu verstehen – und dies auch vermittelbar zu machen. Genau hier setzt Neumanns Publikation an, indem sie die Lebenswelten der Hauptamtlichen präzise konturiert und so neue Anknüpfungspunkte für die Vermittlungsarbeit bietet.
Unser herzlicher Dank gilt dem Team des Lern- und Gedenkorts Kaßberg-Gefängnis sowie der Volkshochschule Chemnitz für die gute Zusammenarbeit und professionelle Durchführung der gemeinsamen Veranstaltung.
Publikation
Dr. Heiko Neumann: Ein Ort für „Menschen mit neuem Bewusstsein“. Lebenswelten hauptamtlicher Mitarbeiter der Bezirksverwaltung Dresden des MfS 1950 bis 1989, Sandstein Verlag, Dresden 2024, 568 Seiten, 29 €. Mehr Infos im Websop.
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Sven Riesel
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