Vor 85 Jahren: Die verschwundenen Transporte – Das Schicksal jüdischer Psychiatriepatienten aus Schlesien im Nationalsozialismus
16.12.25
Bis heute ist unbekannt, wohin knapp 150 jüdische Menschen aus schlesischen Heil- und Pflegeanstalten im Dezember 1940 deportiert wurden. Vieles spricht dafür, dass sie in die Tötungsanstalt Pirna-Sonnenstein kamen.
Am 17. Dezember 1940 fuhren mehrere Busse der Gemeinnützigen Krankentransportgesellschaft (Gekrat) zur schlesischen Heil- und Pflegeanstalt Leubus (Lubiąż). Die barocke Fassade des ehemaligen Klosters schien die nationalsozialistische Propaganda zu bestätigen, wonach die „minderwertigen“ psychisch kranken Menschen in Palästen wohnten, während die Gesunden in schlechten Unterkünften hausen müssten. Tatsächlich waren die Räume dunkel, baufällig und kaum geeignet zur Behandlung von psychischen Krankheiten.
In den Tagen zuvor waren auf Veranlassung der Krankenmordorganisation „T4“ aus sämtlichen nieder- und oberschlesischen psychiatrischen Anstalten die jüdischen Patientinnen und Patienten nach Leubus verlegt worden. Sie wurden dort gesammelt, um wenig später weiterverlegt und ermordet zu werden. Am 17. Dezember 1940 sollte ein erster Teil von ihnen von der Gekrat abgeholt werden. Um die Busse zu empfangen, war eigens der schlesische Landespsychiater Heinrich Tewes aus Breslau nach Leubus gefahren. Seiner Behörde war bei der Überprüfung der Akten aufgefallen, dass unklar war, ob die verlegten Personen überhaupt als „Volljuden“ galten. Außerdem ließ sich bei einigen die Staatsungehörigkeit nicht feststellen. Diese Bedenken brachte Tewes am Trag des Abtransportes gegenüber dem Transportleiter Egmont Küpper vor. Küpper schob die Einwände beiseite und transportierte die ersten Menschen ab. Bereits am nächsten Tag erschien er erneut und machte deutlich, dass er „keine Bedenken habe, sämtliche in Leubus für diesen Transport im Rahmen dieser Aktion zusammengezogenen Geisteskranken auch zu übernehmen.“ Auch an diesem und am nächsten Tag transportierte er jüdische Menschen ab – insgesamt wurden vom 17. bis 19. Dezember 1940 149 Personen verlegt. Welche Tötungsanstalt das Ziel war, ist bis heute nicht sicher. Sicher hingegen ist, dass die Menschen ermordet wurden.
Dabei waren jüdische Menschen mit psychischen Krankheiten im Nationalsozialismus gleich doppelt stigmatisiert und verfolgt. Sie galten der NS-Ideologie nach sowohl als „rassenhygienisch“ als auch als „rassisch“ minderwertig. Während der Krankenmorde genügte es, dass jemand als jüdisch galt. Einer scheinbar medizinischen Begründung bedurfte es für die Ermordung nicht mehr. Dies war auch bei den 149 aus Leubus verlegten Menschen der Fall. Ihr Tod wurde in einem fiktiven Standesamt „Chelm II“ bei Lublin beurkundet. Die Angehörigen sollten glauben, die Opfer seien in das besetzte Polen verlegt worden. Schnell verbreitete sich das Gerücht, dass der Zweck der Transporte deren Ermordung war. So hielt der jüdische Historiker Willy Cohn in seinem Tagebuch fest: „Ich sah gerade wie ein älterer Jude eine Rechnung der Irrenanstalt Chelm bei Lublin bezahlte. Das ist die Anstalt von der erzählt wird, daß man dort alle jüdischen Geisteskranken umbringt.“ Tatsächlich existierte bis 1939 eine Anstalt in Chelm, allerdings waren die Insassen unmittelbar nach der Besetzung durch SS-Einheiten erschossen worden.
Mit hoher Wahrscheinlichkeit war das tatsächliche Ziel der Verlegung aus Leubus die Tötungsanstalt Pirna-Sonnenstein. Diese lag Leubus am nächsten, wodurch die direkt aufeinanderfolgenden Abtransporte möglich waren.
Diese Mordaktion fand auf deutschem Boden statt, in Sachsen. Sie bildete den Übergang von der seit 1933 andauernden Verfolgung und Vertreibung hin zur systematischen Ermordung jüdischer Menschen.
Anlässlich des Jahres der jüdischen Kultur in Sachsen 2026 werden die Gedenkstätten Pirna-Sonnenstein und Großschweidnitz das Schicksal dieser und weiterer jüdischen Psychiatriepatienten stärker in den Blick nehmen. In Veranstaltungen und Social-Media-Beiträgen wird ihre Geschichte, aber auch die Geschichte von Orten und Akteuren in Sachsen beleuchtet werden. Weitere Informationen dazu finden Sie ab Januar 2026 in unserer Rubrik „Veranstaltungen“.

Kontakt
Hagen Markwardt (Gedenkstätte Pirna-Sonnenstein, Öffentlichkeitsarbeit)
Tel. 03501 710963
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